Nicht das “bürgerliche Lager”, die Nichtwähler haben die Mehrheit

OB Dr. Kurz war die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, als er sich am Wahlsonntagabend (14. Juni 2015) im Großen Saal der Abendakademie den Fragen des Rhein-Neckar-Fernsehens (RNF) stellte. Da war bereits klar, dass ihm mindestens drei Prozent zum erhofften Sieg in der ersten Runde fehlen würden. Kein Wunder, wenn nach eigener Feststellung die Wahlbeteiligung in einigen früheren SPD-Stimmbezirken kaum über 12 % kam.

Flugs errechneten Optimisten aus 33,8 % für Peter Rosenberger und 15,9 % für Christopher Probst eine “Mehrheit für das bürgerliche Lager” von 49,7 % gegen 46,8 für SPD, Grüne und Linke. Berücksichtigt man bei dieser Rechnung allerdings die Wahlbeteiligung von 30,7 % (vor acht Jahren noch 36,6%), dann sieht es anders aus. Dann haben die Nichtwähler mit 69,3 % eine supersatte 2/3-Mehrheit gehabt und das bei Weitem größte Lager gebildet.

Die solidesten Stützpunkte hatte das Nichtwählerlager in der Neckarstadt-West mit 85,4 %, in Innenstadt/Jungbusch mit 81,89 % und auf der Schönau mit 78,16 %. Und selbst im bürgerlichen Feudenheim umfasste es mit 52,41 % noch die Mehrheit der Wahlberechtigten.

Leider weiß die Wahlforschung nicht wirklich viel über Motive von Nichtwählern. Dabei spielen auch ein paar praktische Schwierigkeiten eine Rolle:

  • Nichtwähler kann man nicht beim Verlassen der Wahllokalen befragen
  • Telefonisch lassen sie sich auch eher ungern interviewen
  • Sie outen sich nicht gerne als Nichtwähler
  • Sie nennen eher solche Motive, die als sozial akzeptiert gelten.

Wahlforscher stellen dann oft einfach auf die Wohngebiete ab. So kommen sie zu dem Ergebnis, dass in bestimmten Wohngebieten mit besonders vielen Nichtwählern sozial benachteiligte Menschen wohnen. Daraus schlussfolgern sie, Wahlenthaltung sei eine Folge sozialer Benachteiligung. Bürgerliche Tugenden wie das Empfinden einer moralischen Wahlpflicht seien dort eben unterentwickelt, Programme und Kandidaten wegen Bildungsferne nicht bekannt und die Wahlberechtigten zu träge, sich für 45 Minuten zum Wählen vom Fernseher weg zu bewegen. Mit anderen Worten, der von etlichen Wahlforschern konstruierte Nichtwähler ist einfach ein Assi. Daraus folgt mit einer gewissen Logik der Vorschlag von Parteifunktionären, zur Steigerung der Wahlbeteiligung mit fliegenden Wahlurnen auf die Parkplätze vor große Supermärkten zu ziehen.

Besser sollten die Wahlforscher auch mal solchen Hypothesen nachgehen, die normalerweise in den Medien tabuisiert werden. Auffällig ist zum Beispiel, dass Wahlenthaltung relativ stark korreliert mit dem Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung bzw. der Wohnbevölkerung mit Migrationshintergrund. (Korrelation ist noch keine Kausalität!!!) Auch korreliert geringe Wahlbeteiligung stark mit hoher Arbeitslosigkeit, und hohe Arbeitslosigkeit korreliert stark mit einem hohen Anteil von Nachbarn mit Migrationshintergrund an der Wohnbevölkerung. Was bedeutet das für die Lebenslagen der Menschen und wie sie die Segnungen der Politik und des Wählens sehen?

In den unten stehenden Grafiken werden die Wahlbeteiligungen beim ersten Wahlgang der jüngsten OB-Wahl in den Stadtbezirken dem Anteil der unter 27jährigen mit Migrationshintergrund sowie dem Anteil der Arbeitslosen in den Stadtteilen gegenübergestellt. Obwohl Stadtbezirke und Stadtteile nur teilweise übereinstimmen, sind die Korrelationen mit bloßem Auge sichtbar: Die Wahlbeteiligung war im ersten Wahlgang der OB-Wahl offenbar dort besonders niedrig, wo der Zuwanderanteil in Kitas und Schulen sowie die Arbeitslosigkeit hoch waren – und umgekehrt. Dort, wo beide Werte niedrig liegen, war die Wahlbeteiligung (noch) relativ hoch. Aber selbst dort wo sie absolut am höchsten war, lag die Wahlbeteiligung deutlich unter 50 % und deutlich niedriger als zum Beispiel bei der Bundestagswahl.

OB-Wahl 2015
Wahlbeteiligung 1. Wg. Mannheim: 30.7 %
Feudenheim: 47.59 %
Wallstadt: 46.2 %
Neuostheim/Neuhermsheim:
43.53 %
Lindenhof: 37.56 %
Neckarau: 36.67 %
Seckenheim: 34.7 %
Friedrichsfeld: 34.67 %
Schwetzingerstadt/Oststadt:
34.19 %
Rheinau: 31.08 %
Käfertal: 30.65 %
Waldhof: 30.36 %
Vogelstang: 28.57 %
Sandhofen: 27.54 %
Neckarstadt-Ost/ Wohlgelegen: 26.31 %
Schönau: 21.84 %
Innenstadt/Jungbusch:
8.11 %
Neckarstadt-West: 14.6 %
 -27Mihigru15-65ArblosQuelle: 3. Mannheimer Bildungsbericht, 2015

Es ist der auch in “bürgerlichen” Wohngegenden hohe Nichtwähleranteil von über 50 %, der zeigt, dass die Assi-Hypothese, die alles unerwünschte Verhalten auf der Welt mit sozialer Benachteiligung erklären will, viel zu kurz greift. Wir sollten uns stattdessen mit dem Gedanken anfreunden, dass Wählen und Nicht-Wählen aus der Sicht der Wahlberechtigten gleichberechtigte, rationale Strategien sind. Dann kann man auch aufhören, Nichtwählern ständig moralische Vorwürfe zu machen. Am Wahlabend hatte dies bereits begonnen, noch ehe die Stimmen fertig ausgezählt waren.

Wie argumentierten Nichtwähler sinngemäß, nachdem sie sich im Gespräch geoutet haben?

  • Eigentlich bin ich ganz zufrieden hier. Mannheim hat ein vielfältiges kulturelles Angebot, man kann gut einkaufen und die Verkehrs- und Finanzprobleme sind geringer als in anderen Großstädten. Gegen die Probleme, die wir tatsächlich haben, zum Beispiel mit Einwanderung und Kriminalität, kann eine Stadt allein nicht viel tun. Warum soll ich wählen gehen? Ich will ja auch niemanden abwählen.
  • Früher habe ich immer gewählt, weil das ein Privileg für Staatsbürger war. Aber jetzt darf ja jeder wählen. 16-Jährige mit null Ahnung, EU-Ausländer, die auch zuhause wählen, Eingebürgerte mit mehreren Pässen. Wenn Wählen so wenig bedeutet, will ich nicht mehr.
  • Bei Bundestagswahlen geht es um Außenpolitik, Steuern, Renten, Energieversorgung, Zuwanderung usw. Im Vergleich dazu geht es bei einer OB-Wahl um nichts, was mein Leben sonderlich verändern könnte. Zumindest wäre es viel zu aufwändig, das herauszufinden.
  • Ich bin aus beruflichen Gründen nach Mannheim gezogen und kenne mich noch gar nicht richtig aus. Die Wochenenden verbringen wir meist im Umland. Viele der kommunalpolitischen Positionen sagen mir nichts. Auch unter Arbeitskollegen sprechen wir nie über Kommunalpolitik. Wofür sollte ich mich entscheiden?
  • Wir haben uns rechtzeitig schlau gemacht. So haben wir unseren Hauptwohnsitz extra in das Haus meiner Eltern verlegt, damit unsere Tochter nicht in der X- sondern in der Y-Schule eingeschult wurde. Das hat eine Reduzierung des Ausländeranteils in der Klasse von 90 auf 50 % gebracht. Dafür soll ich jemandem das Vertrauen aussprechen?
  • Von den vier Kandidaten traue ich dreien das Amt nicht zu. Den vierten will ich aus verschiedenen politischen Gründen nicht wählen. Also wähle ich gar nicht.
  • Ich kann in meiner Nachbarschaft sehr gut beobachten, wer regelmäßig zur Arbeit geht und wer nicht, wer von der Stütze lebt und trotzdem ein dickes Auto fährt. Man spricht ja auch darüber. Es geht nicht gerecht zu. Wen soll ich wählen? Denen ist das doch egal.
  • Ich bin 17 und soll mich mit irrsinnig vielen Dingen gleichzeitig beschäftigen. Offen gestanden erzählen für mich alle Kandidaten das Gleiche. Buga ist mir egal. Woher soll ich wissen, ob die finanziert werden kann? Man könnte denken, wir sollen als Jungwähler nur geködert werden.
  • Alle drei ernsthaften Kandidaten repräsentieren politische Positionen, die die Zusammensetzung der Bevölkerung und die Einheimische Kultur durch Zuwanderung aus dem Orient und Afrika noch weiter grundlegend verändern wollen. Wo ich wohne, sind wir Deutsche als Minderheit in der Defensive. Ich erlebe jeden Tag Überfremdung.
  • Bei fast jedem unserer Vereinsmitglieder wurde in den letzten Jahren zumindest versucht, einzubrechen, mehrfach mit Erfolg. Und wenn nicht bei denen, dann bei den direkten Nachbarn. Wir müssen das hier zuhause ausbaden, weil die gleichen Politiker in Brüssel und in Mannheim unsere Interessen nicht ernst nehmen.
  • Ich kann in meinen erlernten Beruf nicht mehr arbeiten. Daher brauche ich alle paar Jahre einen neuen un- oder angelernten Job. Alle drei ernsthaften Kandidaten repräsentieren politische Positionen, die Millionen Menschen ins Land geholt haben, mit denen ich am Arbeitsmarkt konkurrieren muss. Daher ist meine Kaufkraft heute niedriger als vor zehn Jahren.
  • Ich bin ein biodeutscher Hetero-Mann, verheiratet mit eine eingeborenen Hetero-Frau und zwei ehelichen Kindern. Wenn ich den Lokalteil lese, beschäftigen sich alle Kommunalpolitiker nur noch mit Minderheiten aller Art. Dann sollen die sie auch wählen.
  • In unserer Nachbarschaft, die noch ziemlich intakt war, sind in den letzten Jahren etliche ältere Häuser an Zuwanderer verkauft worden. Sie suchen keinen Kontakt. Nach zwei vergeblichen Versuchen suchen wir jetzt auch nicht mehr. Ich glaube, das wird sich fortsetzen. Wir fürchten um den Wert der Häuser in unserer Gegend. Ich wähle niemanden, der mich ständig auffordert, das gut zu finden.

Für wie viele Nichtwähler diese Stimmen repräsentativ sind, weiß niemand, da es nicht untersucht wird. Es wäre jedoch ziemlich voreingenommen und arrogant, diese Überlegungen dieser Mitbürger als verantwortungslos oder irrational zu bezeichnen. Viele Entscheidungsgründe von Wählern für einen Kandidaten werden eher oberflächlicher sein, zum Beispiel “Ist mir sympathisch”.

Es ist nicht die Schuld von Wahlberechtigten, wenn sie den Eindruck haben, dass keiner der Kandidaten ihre Interessen vertritt, oder genügend Klartext redet, oder der Kandidat der Wunschpartei nicht das nötige Format hat, oder sie sich überfordert fühlen oder einfach nicht angesprochen. Es ist jedenfalls noch reichlich Platz in der Kommunalpolitik für eine echte programmatische und personelle Alternative. In vier bzw. acht Jahren wird in Mannheim erneut gewählt.