Wer geht 2030 noch ins Theater?

Bisher will das außer uns kaum jemand wissen

 

“Die Bürgerfraktion (früher AfD/Alfa) fragte nach Marktforschungsergebnissen zur Zuschauerentwicklung und -struktur.“ So steht es am Beginn eines Artikels im MM vom 14.April über die jüngste Theaterdiskussion im Kulturausschuss. In Wirklichkeit ist es so, dass es gar keine Marktforschungsergebnisse für das Nationaltheater gibt. Deswegen haben wir auch nicht danach gefragt, sondern in einem Antrag gefordert, dass das NTM endlich mal vorausschauende Marktforschung betreibt und die Frage beantwortet, wo in den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren das Publikum für Theater, Oper und Ballett eigentlich herkommen soll. Denn immerhin sollen demnächst wenigstens 200 Mio. Euro in die Generalsanierung investiert werden.

Unseren Antrag hat die Ausschussmehrheit – nachdem ein Versuch zur stillen Beerdigung an unserem Widerstand gescheitert war – vertagt. Damit hat sie zunächst eine Abstimmung, bei der man Farbe bekennen muss, vermieden.

Das emotionsfördernde Grundproblem ist, dass wie auf jedem anderen Markt (= Begegnung von Angebot und Nachfrage), z.B. den Märkten für Schulranzen, Damenmode oder Fertiggerichte, auch die Nachfrage nach Theater, Oper und Ballett eine limitierende demografische Grundlage hat, auf der sich dann die fein differenzierten Präferenzen der Konsumenten aufbauen. Mit dieser demografischen Grundlage und der Dynamik ihrer künftigen Entwicklung will sich aber – außer uns – niemand beschäftigen. Anscheinend spielt dabei die Furcht eine Rolle, man müsse sich dann mit so unangenehmen Themen befassen wie der Geburtenarmut bei Eingeborenen und ethnokulturellen Verschiebungen durch Immigranten. Dabei ist es aktuell so, dass niemand plausible Zahlen und Hypothesen hat – weder für Panik noch für Entwarnung.

Lediglich die Bereitschaft, auch ohne einen sorgfältigen Blick auf die künftige Nachfrage mal eben aus dem Bauch heraus mindestens 200 Mio. Euro (überwiegend auf Pump) zu investieren, ist im Gemeinderat beängstigend groß. Wir hielten das für verantwortungslos, einfach so im Blindflug zu entscheiden.

Also wollen wir die Verwaltung beauftragen:

  • Einen Überblick zu erstellen über größere Marktforschungsuntersuchungen und Besucherbefragungen, die in den letzten Jahren von großen deutschsprachigen Bühnen beauftragt wurden
  • Auszugsweise solche Ergebnisse zusammenzustellen, die nicht nur von spezifischer Bedeutung, sondern verallgemeinerbar sind
  • Ein auf den Standort Mannheim bezogenes Zahlenwerk zu erstellen zu den soziodemografischen und ethnokulturellen Trends, die das Potential an Theater- und Opernbesuchern in den nächsten zwanzig Jahren bestimmen werden
  • Eine Untersuchung vorzulegen über die Altersstruktur und weitere relevante Sozialdaten (z.B. Migrationshintergrund) der aktuellen Abonnenten und übrigen Besucher von Theater und Oper
  • Modellrechnungen vorzulegen, wie viele Besucher voraussichtlich in den nächsten zehn Jahren altersbedingt verloren gehen werden und aus welchen nachwachsenden Potentialen sie ersetzt werden sollen
  • Befragungsergebnisse vorzulegen, aus denen sich ergibt, in welchem Umfang die Gewohnheit regelmäßiger oder gelegentlicher Theater- bzw. Opernbesuche in der Vergangenheit innerhalb von Familien an die nächste Generation „vererbt“ wurde, und ob und in welchem Umfang davon ausgegangen werden kann, dass dies auch in Zukunft tatsächlich geschehen wird.

(Man muss solche Anträge so detailliert und umfassend formulieren, da die Verwaltung so gut wie niemals freiwillig mehr macht als sie muss, auch wenn es offensichtlich sinnvoll wäre.)

Vor einiger Zeit schon hatten wir die Verwaltung danach gefragt, was das Theater eigentlich über seine Besucher weiß, insbesondere die Altersstruktur und die Chancen, die gegenwärtigen Besucherzahlen auch in Zukunft zu halten (A345/2016).

Die Antwort war auf irritierende Weise selbstgefällig und unprofessionell – eigentlich dummdreist. Man verzichte aus Datenschutzgründen (!) bewusst auf die Erhebung von Daten zur Altersstruktur. Auch seien diese für Entscheidungen nur von geringem Wert. Auch Zahlen, die zeigen, ob jüngere Jahrgänge das Wegsterben der älteren hinreichend kompensieren, war für die Intendanz nicht von Interesse. (V012/2017) Das Theater hat also keine Ahnung, was der Schnawwl und die Zwangsbesuche von Schulklassen zehn und zwanzig Jahre später bewirkt haben und bewirken werden.

Ein paar Jahre werden die Besucherzahlen noch von den geburtenstarken Jahrgängen und ihren relativ hohen Renten und Pensionen profitieren können. Aber danach?

Von allen Grundschülern in Mannheim haben heute 56% den sog. Migrationshintergrund oder sind Ausländer, von den Gymnasiasten sind es 34,6%. Ihre Eltern kommen häufig aus Ländern, in denen es so gut wie keine Theater und Konzertsäle gibt. Werden sie in fünfzehn oder zwanzig Jahren aus eigenem Antrieb Theater- und Opernkarten kaufen, oder lieber Netflix?

Es ist eine riskante Entscheidung, – unbeschadet der noch ungeklärten Finanzierung – mehr als 200 Mio. für die Theatersanierung auszugeben, wenn man sich an die demografischen Daten der heutigen Schüler und jungen Berufstätigen hält. Man muss sich fragen, ob die technosüchtigen Besucher von Time Warp wohl demnächst ein Theaterabo erwerben werden. Werden Menschen, die keine Tageszeitung mehr abonnieren, noch ins Theater und – noch anstrengender – in die Oper gehen?

Natürlich können auch Zielgruppenanalyse und Marktforschung solche Fragen nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Aber sie können wenigstens das Maß an Unwissenheit verringern. Daher muss ein Teil der Planungsmittel nach unserer festen Überzeugung für Marktforschung abgezweigt werden. Dies ist Aufgabe der Intendanz.

Wie werden sich die anderen Fraktionen verhalten, wenn der Antrag erneut auf der TO stehen wird? Werden sie sich mit der Schriftfassung des dünnen mündlichen Vortrages aus dem Kulturausschuss zufriedengeben und unseren Antrag ihren Instinkten folgend ablehnen? Oder werden sie sich der Auffassung anschließen, dass es als Grundlage einer Großinvestition eines soliden, gerechneten Geschäftsmodells bedarf?